03/11/2010

Tessiner und Romands fauler

"Tessiner und Romands fauler", so lautete Ende April 2010 ein Zwischentitel im Blick, der feststellte, Deutschschweizer Kinder würden von ihren Eltern weniger oft an die Schule gefahren. Tessiner und Romands hingegen seien bequemer: Nur die Hälfte von ihnen seien gewöhnlich zu Fuss in die Schule unterwegs, während in der Deutschschweiz bis zu 80 % der Kinder den Schulweg selber zurücklegen. 
In die gleiche Richtung wurden in der Schweiz die klaren Unterschiede bei der Abstimmung über die Sanierung der ALV-Versicherung (siehe Swissinfo zum 26. September 2010) gedeutet: Es bestünden grundlegende Mentalitätsunterschiede. Positiv gesagt würden sich die Deutschschweizer stärker um ein augeglichenes Budget des Staates kümmern, während die Romands stärker am Solidaritätsgedanken hingen. Der NZZ-Korrespondent Christophe Büchi meinte aus Lausanne, der "Röstigraben bei der Arbeitslosenversicherung habe durchaus kulturelle Gründe". Einerseits versichert er: "'Ich arbeite, also bin ich' ist auch ein welsches Motto". Andererseits kommt er auf den Gedanken der Mentalitätsunterschiede zurück: "In der Romandie gilt es eher als normal, dass man die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld ausreizt". Also wieder die Idee der Bequemlichkeit.
Ich selber kann nur bedingt an diese so genannten kulturellen oder Mentalitätsunterschiede glauben. Oft sind es nämlich in realen Restriktionen begründete, knallharte Zwänge, die als schwammige kulturelle Präferenzen und verschwommene Identitätsmerkmale hingestellt werden. 
Nehmen wir das Beispiel der bequemen Tessiner Kinder, die zur Schule gefahren werden: Wenn Sie schon im Tessin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren - auch über kurze Strecken -, dann werden Sie die Begrenztheit und Limitiertheit des Angebots bemerkt haben. Ausserdem ist der Kanton so fragmentiert wie wenig andere. Schon allein in der Agglomeration Lugano gibt es Orte der Abgeschiedenheit, die mit dem Bus äusserst mühsam zu erreichen sind. Die komplizierte Linienführung der Busse hat auch mit der Kleinräumigkeit und geographischen Flaschenhälsen zu tun. Überall sind Seen und Berge. Oder aber enge Landesgrenzen. Haben wir also das Recht, von der Geographie auf die Faulheit zu schliessen?  
Auch bei der Arbeitslosigkeit muss man zuerst an knallharte Restriktionen denken, nicht nur an diffuse "Sensibilitäten". Wo mehr Arbeitslose sind, wird mehr für Sozialrechte gestimmt. 
Gewisse Kommentatoren glauben, die hohen Krankenkassenprämien in der Westschweiz, etwa in der Gebührenhölle Genf, hätten mit Mentalitäten zu tun. Im Herbst 2010 wurden nun - wie jedes Jahr - massive Aufschläge bei den Prämien für das Jahr 2011 gemeldet, vor allem in der Deutschschweiz. Grund dafür (siehe NZZ vom 16. September 2010) ist die Tatsache, dass die Krankenkassen in der Romandie - gerade in Genf - höhere Reserven gebildet haben. Es besteht das Risiko, dass durch Genfer Bürger bezahlte Reserven über interkantonale Transfers die Deutschschweizer quersubventionieren (siehe dazu TSR Info). Gewisse Deutschschweizer waren also ein paar Jahre lang Profiteure einer Entwicklung, zu deren Opfern Bewohner des Welschlands gehörten. Gewisse Krankenkassen in der Deutschschweiz sollen sich mit der zu geringen Reservenbildung am Rande der Legalität bewegt haben. An diesem Beispiel sieht man, dass die Transfers zwischen den Sprachregionen nicht immer einseitig verlaufen. Manchmal verlaufen sie sogar den verbreiteten Stereotypen von Faulheit und Bequemlichkeit völlig entgegen.
Haben wir also den Mut, einen Blick hinter die von halbinformierten oder ratlosen Schwätzern errichteten Kultur-Vorurteile und Mentalitäts-Kulissen zu werfen: Wir werden immer reale Gegebenheiten, Restriktionen und Interessen feststellen, die nichts mit Präferenzen zu tun haben und uns dazu führen sollten, unsere Vorurteile zu überdenken.

(Immagine: risultato della votazione sulla revisione dell'assicurazione disoccupazione del 26 settembre 2010, accettata dai cantoni della Svizzera tedesca contro una minoranza di cantoni latini e Basilea). 

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