12/07/2009

Giovanni Netzer

Der Schauspieler nähert sich dem Löwen und reisst ihn mit einer schnellen Bewegung in zwei Stücke. Wir sind mitten in den Proben der zeitgenössischen Oper „Samson“ des Theaterfestivals „Origen Festival Cultural“ in Riom im bündnerischen Surses. Es ist eine der Anfangsszenen des Stücks. In ein paar Tagen ist Premiere. Dem Dirigenten Clau Scherrer hat die Szene noch nicht ganz gefallen. Der Löwe, ebenfalls gespielt von zwei Schauspielern, sei zu langsam hereingekommen und er will auch, dass Samson das Lied, das er eben gesungen hat, noch einmal „mit etwas mehr Schwung“ intoniert. Die Lieder sind alles rätoromanische Volkslieder mit Originaltexten. Giovanni Netzer, dem Gründer und Intendant des Festivals ist es darum gegangen, die biblische Geschichte des Samson mit dem rätoromanischen Kulturgut zu verbinden. Nach der Probe erzählt er uns von seinem Projekt, seinen Ideen und Zielen.

Dieses Jahr geht das „Origen“ Festival bereits in seine fünfte Ausführung. Ein Theaterfestival von diesem Ausmass ist aussergewöhnlich für ein Tal wie das Surses. Giovanni Netzer ist hier aufgewachsen. Die Landschaft, die Berge haben ihn geprägt. Nach der Schule ist er wie die meisten aus dem Tal fortgezogen und hat in Chur und in München Theologie und Theaterwissenschaften studiert. Im Gegensatz zu den meisten anderen ist er aber hierher zurückgekehrt. „Ich bin hier verwurzelt. Meine Familie lebt seit 700 Jahren hier, da weiss man halt einfach, dass man im Zweifelsfall hierher gehört“, sagt Giovanni Netzer, „Die Entscheidung, zurückzukehren hatte aber auch damit zu tun, dass man in einer Gegend wie dem Surses mit dem Theater noch sehr viel bewirken kann. In München gibt es schon unzählige Theater, die Szene ist übersättigt. Es ist schwierig etwas Neues aufzubauen, das die Leute noch nicht kennen.“

Giovanni Netzer wollte im Surses „etwas von hier“, etwas originales und einzigartiges aufbauen – deshalb der Name des Festivals: Origen, was auf Deutsch „Herkunft“ bedeutet. „Ich wollte die hiesige Kultur für das Theater nutzen“, sagt er, „das Rätoromanische bietet mit seinen fünf Dialekten einen grossen kulturellen Schatz, der nicht verloren gehen darf.“ Im Theater wird aber nicht nur Romanisch gesprochen, sondern auch Sprachen wie Deutsch, Italienisch oder Norwegisch. „Ich wollte mit der Vielsprachigkeit vermeiden, das das Theaterfestival zu einem ‚rätoromanischen Ghetto’ verkommt. ‚Origen’ soll hier verwurzelt sein, aber es soll auch im Dialog mit dem übrigen Europa stehen. Das war hier schon immer so: Das Surses war ein typisches Transitland. Seit der Antike zogen die Leute durch dieses Tal und über die Pässe und bewirkten einen regen kulturellen Austausch.“

Obwohl es einem auf den ersten Blick vielleicht ungewohnt vorkommt, dass Samson, als Held der Oper, Rätoromanisch singt, gibt es durchaus Parallelen zwischen diesem Stück und der Geschichte der Rätoromanen: So gab es und gibt es auch hier Konflikte zwischen den Leuten von hier und denen vom Unterland, so wie in der Geschichte zwischen den Hebräern aus dem Bergland und den Philistern vom Tiefland. Und es ist überraschend in wie vielen von den Volksliedern kriegsverherrlichende Stellen vorkommen, was durchaus zu der Geschichte aus dem alten Testament passt.

Giovanni Netzer hat eine Vorliebe für alttestamentliche Texte. „Das sind starke Stoffe, die sehr fürs Theater geeignet sind.“ Religiöse Themen haben ihn schon immer interessiert. „Die ersten Theaterstücke, die ich geschrieben habe, waren Krippenspiele.“ Ihn fasziniert das Verbindende zwischen Theater und Theologie. „In der Theologie, besonders in der Liturgie gibt es sehr viele dramatische Elemente und sehr viel Symbolik. Deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, Theologie und Theaterwissenschaften gleichzeitig zu studieren.“

Das mutige und ungewöhnliche Theaterprojekt von Giovanni Netzer verfügt mittlerweile über eine grosse Ausstrahlung. Nicht nur in den Schweizer Medien wird über „Origen“ berichtet und im Surses stehen mittlerweile über zwei Drittel der Leute hinter dem Festival. Das war nicht immer so. So ein Projekt benötigt sehr viel Arbeit. Giovanni Netzer ist ein unermüdlicher Macher und „Schaffer“. „Meine Woche hat sieben Tage und ich konnte seit mehreren Jahren keine Ferien mehr machen.“ Unterdessen kann Giovanni Netzer bei seiner Arbeit mit vielen Sympathien rechnen, ohne die ein Überleben sonst kaum möglich wäre. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein renommiertes Modehaus für die Kleider für die Schauspieler/Innen bei weitem nicht das verlangt, was es verlangen müsste. Auch auf viele Theaterschaffende übt „Origen“ eine Faszination aus. Einige von ihnen sind jedes Jahr wieder dabei. „’Origen’ ist kein normales Theaterfestival“, sagt Giovanni Netzer, „die Schauspieler/Innen wohnen über drei Monate lang hier im Surses, was ungewöhnlich ist. Viele von ihnen schätzen die Mischung zwischen den Proben und der Freizeit, wo sie auch wandern gehen können. Während dieser Zeit wächst die Truppe auch zusammen und es entstehen einige Freundschaften.“

Wichtig für das Projekt war auch, dass die Talbevölkerung dem Theaterfestival „Origen“ in einer Volksabstimmung 2007 die Burg Riom zur Verfügung gestellt hat. Das Theater ist eng mit der Burg verbunden. Der trutzige Wohnturm wurde im 13 Jahrhundert erbaut und war unter anderem der Wohnsitz des Bündner Freiheitshelden Benedetg Fontana. Sie wurde im Innenraum mit einer einfachen Holzkonstruktion für die Bühne und die Sitzplätze versehen und gibt nun eine eindrückliche und passende Kulisse für das Theater her. „Es muss aber noch einiges gemacht werden“, sagt Giovanni Netzer, „Viele von unseren Schauspieler/Innen und Sänger/Innen erkälten sich, da es in der Burg immer so kalt ist. Wir müssen über eine Heizung und auch über ein neues Dach nachdenken. Es gibt noch viel zu tun.“ Giovanni Netzer versprüht beim Sprechen so viel positive Energie, dass man sich sicher ist: Egal, wie viel es noch zu tun gibt, dieser Mann wird es schaffen. Und es wird einem klar, wie enorm wichtig die Person des Giovanni Netzer für dieses Projekt im Bündner Bergtal ist. Das Berggebiet braucht mehr so Menschen wie Giovanni Netzer, die mit ganzem Herzblut hinter einer Sache stehen!
Claudio

Aucun commentaire: