09/07/2009

Die Landschaft des Geistes

Wenn ich auf einer Bergwanderung stehen bleibe und die Alpenkulisse betrachte, vermittelt mir die Schönheit der Landschaft immer ein wohliges und befriedigendes Gefühl, aber meistens durchläuft mich auch ein kleiner Schauder, wenn mir die immensen Dimensionen und Kräfte der Natur bewusst werden. Je nach Betrachter und dessen Seelenzustand kann eine Berglandschaft sehr unterschiedliche Eindrücke vermitteln.

In der traditionellen chinesischen Malerei versucht man den intuitiven Eindruck von einer Landschaft zu katalysieren, um durch deren Darstellung nicht nur die reale, greifbare Welt; sondern auch die innere, geistliche Welt des Malers darzustellen. Das Schauerliche wird durch Symbolik verschlüsselt, Perspektiven und Formen nach geistigen Idealen angepasst, mit dem Ziel Harmonie nach daoistischen Prinzipien wiederzugeben. In den Bildern der traditionellen Schule sind immer Berge und Wasserläufe zu sehen. Auf Chinesisch wird dieser Stil dementsprechend auch als „Berg-Wasser“-Malerei bezeichnet (山水画Shan Shui Hua). Die Landschaft wird um einen Mittelpunkt arrangiert, welcher z.B. ein markanter Fels sein kann. Das Hochformat hilft die weitläufigen und eindrücklichen Dimensionen der Landschaft zu erfassen. Flussläufe werden gekrümmt dargestellt, um der Dynamik zu erzeugen und um den Blick des Betrachters zum Mittelpunkt hinzuleiten. Die persönliche Ausdrucksform des Künstlers ist unwichtig. Es existieren strenge Regeln, wie Linien und Formen anzuordnen sind, um gewisse Zustände oder Erfahrungsinhalte auszudrücken. Ein Meister ist, wer die Regeln so gut beherrscht, dass er mit dem Pinsel auf umfassende Weise seine philosophischen Erkenntnisse wiederzugeben vermag. Die Natur dient als Inspiration, aber nicht als Sujet selbst. Bei der Betrachtung eines Bildes erblickt man nicht eine terrestrische Landschaft, sondern eine Landschaft des Geistes.

Da ich selbst weder Malerin noch Philosophin bin, bleibt mir beim Anblick eines gelungenen Bildes oder der Alpen bloss das Staunen und der Respekt gegenüber der Geistes- bzw. der Naturgrösse. Da frage ich mich, wie wohl die Bilder meiner Ururahnen aussehen würden, hätte sie beim Nachdenken über das „Dao“ die Alpenkulisse als Hintergrund gehabt…

Shuyang


Daoismus: „Lehre des Weges“, chinesische Philosophie und Religion. „Dao“ steht für ein der ganzen Welt zugrunde liegendes, alldurchdringendes Prinzip. Es stellt den Ursprung und die Vereinigung der Gegensätze („Yin“ und „Yang“) dar.

Bild: Lofty Mount Lu. 1467 Ming Dynastie. Painted by Shen Zhou (1427 – 1509)
Quelle: Wikipedia

1 commentaire:

Takuya a dit…

Cooler Beitrag, Shu! :-) Neben deinen spannenden Erlärung zur Harmonie der chinesischen "Natur-Malerei", hat mich vor allem dein verbaler Gebrauch der Katalyse
erfreut.